Ich habe Ödipus Tyrann im Volkstheater gesehen – eine Übernahme vom Schauspielhaus Zürich, inszeniert von Nicolas Stemann. Ein Abend, der den antiken Stoff nicht modernisiert, sondern scharf freilegt. Ohne große Bühne, ohne Ablenkung.
Zwei Schauspielerinnen tragen das gesamte Stück: Patrycia Ziółkowska und Alicia Aumüller. In schwarzen Kleidern, vor einer metallischen Wand, übernehmen sie alle Rollen. Das wirkt zunächst fast trocken, aber genau darin liegt die Kraft. Die Konzentration liegt auf Sprache, Körper, Rhythmus.
Das Stück beginnt mit einem Rückblick. Antigone und Ismene werfen Ödipus seine blinden Privilegien vor. Von dort führt die Inszenierung zurück in die Geschichte, Schritt für Schritt. Erst wirkt vieles bewusst distanziert, ein postdramatisches Spiel mit Kommentaren und direkter Ansprache. Noch wenig Spannung, eher ein Einordnen.
Dann kippt der Abend. Ziółkowska übernimmt die Krone und wird zu Ödipus, und ab diesem Moment entsteht eine klare Linie: die Suche nach dem Schuldigen, die Folgerichtigkeit der Tragödie, die langsame Erkenntnis des eigenen Verstricktseins. Aumüller springt zwischen Seher, Bote und Chor und hält den Rhythmus hoch. Die Reduktion macht jede Wendung sichtbar.
Das zentrale Motiv des Abends ist Schuld – nicht abstrakt, sondern sehr konkret. Wer trägt sie, wer weist sie weiter, wer will sie nicht sehen. In einer der stärksten Szenen rufen die beiden ins Publikum: „Ihr seid die Schuldigen, nach denen ihr sucht.“ Man kann sich dem nicht entziehen. Die Frage trifft auch unsere Gegenwart.
Die Besetzung mit zwei Frauen verschiebt den Blick unaufdringlich. Es entsteht ein anderes Verhältnis zu Macht, Körpern und Rollen, ohne dass die Inszenierung das explizit thematisiert.
Nur das musikalische Ende löst die zuvor aufgebaute Spannung etwas unnötig auf. Aber der Gesamteindruck bleibt: ein konzentrierter, gut gesetzter Theaterabend, der den Kern der Tragödie ernst nimmt.
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